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Über den Roman

(Ein Essay von Bodo Gaßmann: Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“ und anderer Romane)

Das Gegenkonzept: Die Fundierung des Romans auf Politik

Das Ideal ist für Adorno die Autonomie der Kunst, letztlich der l’art pour l’art, der allein dadurch, dass er sich gegen seine Vereinnahmung durch die Kulturindustrie sträubt, auf das ganz Andere verweise. Beispiele dafür sind etwa die Stücke Becketts oder die Prosa von Proust. Heinz Brüggemann kritisiert diese Auffassung:
„Am überkommenen Autonomieprinzip kann auch Adorno nur als letzter Gestalt seiner bürgerlichen Verfallsgeschichte festhalten. Insofern ist ihm die abstrakte und einfachste Bestimmung von Autonomie, die Verselbständigung  der Kunst zu einem Gefüge autonomer Zusammenhänge, durch die allein sie über die bestehende Gesellschaft hinausweisen kann, schon zur Erscheinungsform und zum Legitimationsgrund ihrer politischen Wahrheit geworden. Politische Funktion soll solcher als autonom verstandenen Kunst der abstrakten Negativität von außen, heteronom und gleichsam blind, gegen ihre erklärten Intentionen zukommen: solche wortlose Kritik aber verfällt kraftlos den affirmativen Ideologien des Bestehenden.“ (Brüggemann: Literarische Technik, S. 265)
Dagegen stellt Brüggemann eine auf Politik fundierte Kunst, wie sie in den literarischen Produktionen von Brecht und seinen theoretischen Reflexionen entwickelt wurde. Das ist nicht die Alternative von l‘art pour l’art oder Engagement oder gar vordergründiger Agitation. Die Fundierung auf Politik beruht auf „theoretisch begründeter Erfahrung und emanzipatorischer Geschichtsauffassung in praktischer Absicht“ (ebd.). Ohne dem revolutionären Schwung, den Brecht zu seinen Produktionen in den Zwanziger Jahren antrieb, heute zu folgen, wie es allerdings Brüggemann auch 1973 noch macht, hat das Konzept der Fundierung der Kunst und des Romans auf Politik auch gegenwärtig seine Berechtigung.
„Mit ihrer Fundierung auf Politik treten an die Stelle des Rituals Konstruktion und Geschichte, an die Stelle formaler Geschlossenheit und Monade offene Form und Montage. Das Verhältnis solcher Kunst zur gesellschaftlichen Realität erschöpft sich nicht in deren denunziatorischer Mimesis qua abstrakter Negation. Weil sie erkannt hat, daß die bloß abstrakte Negation in der permanenten Repetition des Immer-Gleichen, zu der sie verurteilt ist (…), nicht nur zur abstrakt-unendlichen werden muß, soll ihr die Konsequenz des Schweigens nicht zur unausweichlichen werden, sondern auch folgenlos bleibt, hat sie die bestimmte Negation zum kritischen Prinzip ihrer poetischen Produktion erhoben. (…) Politik als fundierender Praxisbezug ästhetischer Produktion bezeichnet überhaupt erst als Begriff die objektive Möglichkeit gegenwärtiger Kunstproduktion unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen‘.“ (A. a. O., S. 265 f.)
Um Missverständnisse auszuschließen, füge ich hinzu: Es geht nicht darum, die Richtlinien eines Politbüros oder sonst eine Parteiideologie zu exekutieren, sondern um die „Einsicht, daß Kunst der wissenschaftlichen Erkenntnis bedarf in dem Maße,  in dem sie selbst in ihren wirkungsästhetischen Intentionen verändernde Erkenntnis vermitteln will“ (a. a. O., S. 266). Insofern ist der Autonomie-Gedanke auch bei dieser Fundierung auf Politik aufgehoben, denn was ist Autonomie anderes, als der avancierten Vernunft zu folgen. Das Selbst („auto“) ist sowohl bei Aristoteles als auch bei Kant die eigene entwickelte Vernunft als wissenschaftliche Philosophie.
Der politische Roman „Fieber“ von Arno Kaiser benutzt literarische Techniken, die sich auch in den Werken Brechts finden: Auflösung der Chronologie, Montage von Dokumenten und Episoden, Verfremdungsmittel, Reflexion des Romans im Roman u. a. Den Roman “Fieber“ kann man auch als Entwicklungsroman lesen, dessen Intention es ist, von der Naivität des jungen Bender zu einer reifen Auffassung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kommen – als vorläufiges Endprodukt des politischen Standpunktes des Helden und seines Lesers. Damit will ich nicht behaupten, dass der Autor Arno Kaiser die Ästhetik von Brecht einfach umsetzt, aber er ist nicht unbeeinflusst von ihr. Das zeigt schon die durchgängige Montagetechnik, die den Leser immer wieder aus der Einfühlung in die Handlung herausreißt und ihn im Idealfall zur Reflexion bewegt.


Die Stärke des Romans

Dostojewskis Romane sind dadurch ausgezeichnet, dass sie psychologische Mechanismen aufzeigen, die vorher nicht bekannt oder noch nicht in das allgemeine Bewusstsein gehoben wurden. Man denke nur an das Verhalten und die Psyche des jungen Fürsten Aljoscha aus seinem Roman „Die Erniedrigten und Beleidigten“. Nach Adorno hat aber inzwischen die Psychoanalyse diese Mechanismen erkannt und in die Wissenschaft einbezogen: „die Wissenschaft, zumal die Psychoanalyse Freuds, (hat) längst jene Funde des Romanciers hinter sich gelassen“ (Adorno: Standort, S. 65). Ein Student, der allein die Lehrbücher der Psychoanalyse oder die Schriften von Freud studiert, ist aber noch kein Psychoanalytiker, er benötigt Erfahrungen, denn heilen kann man nicht allein durch die Wissenschaft, sondern heilen kann man immer nur Individuen.
Wer würde sich von einem Studenten der Medizin den Blinddarm herausnehmen lassen, der zwar alle Vorlesungen besucht, alle Klausuren bestanden, aber noch nicht an Leichen sich als Operateur versucht hat? Das gilt analog auch für alle Wissenschaften, die einen Praxisbezug haben. Wer psychologische Mechanismen verstehen, sich Menschenkenntnis aneignen will, der benötigt Erfahrungen mit Menschen, zu denen die Kunst und Literatur einen ersten Zugang liefern kann. Der Roman (nicht nur von Dostojewski) zeigt die psychologischen Mechanismen in der (fiktiven) Praxis, quasi typisch, ja er zeigt, dass diese Mechanismen nie lehrbuchartig wirken, sondern immer modifiziert sind, von einer besonderen und historischen Situation durchtränkt und unendlich durch das Individuelle abgewandelt sind. Kurz, Kunst und Literatur mit Niveau ermöglichen Erfahrungen und geben Deutungsmuster. Zwar kann Literatur keine reale Erfahrung, die Zusammenfassung von Wahrnehmungen bis zum Begriff, ersetzen, Praktika in der Wissenschaft sind notwendig, aber Kunst und Literatur zeigen nicht nur die begriffliche Erkenntnis, sondern diese in Aktion. Literatur spricht den ganzen Menschen an, seine Gefühle, seine Erinnerungen, sein Gemüt, seine moralischen Einstellungen, nicht nur seinen Intellekt (aber diesen selbstverständlich auch).
Im Übrigen ist es eine absurde Vorstellung von Adorno, eine ganze Literaturgattung für obsolet zu erklären, obwohl Adorno selbst gelungene Romane der Moderne angibt. Selbst wenn diese Gattung nicht mehr der höchsten Form des Geistes entspräche, muss sie nicht gleich Kitsch sein; es gibt noch genug Menschen, die nur über solche Literatur überhaupt Zugang zu der heute möglichen Reflexionsstufe finden können. Freilich, in einem hat Adorno recht: Bei aller Forderung, das Besondere und Konkrete darzustellen, kann dies nur gelingen, wenn der Schein, die Oberfläche und die Pseudokonkretheit der kapitalistischen Gesellschaft und des monopolbürokratischen Kollektivismus durchschlagen wird. Ob das Arno Kaiser gelungen ist und ob seine ästhetischen Ansprüche adäquat umgesetzt sind, mögen seine gebildeten Leser beurteilen.


Literatur

Adorno, Theodor W.: Der Standort des Erzählers, in: Ders.: Notizen zur Literatur I, Ffm. 1969.
Brüggemann, Heinz: Literarische Technik und soziale Revolution. Versuch über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts, Reinbek bei Hamburg 1973.
Gaßmann, Bodo: Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens. Resultate der kritischen Philosophie, Garbsen 2012. Zweite, leicht verbesserte Auflage.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik 2 Bde. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, Berlin und Weimar 1965 (2., durchgesehen Auflage).
Marx/Engels Werke, Berlin 1966 ff. (MEW)
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Kliche, Stuttgart 2007 (zuerst erschienen 1853).
Vietta, Silvio: Der europäische Roman der Moderne, München 2007.

Romane, auf die näher eingegangen wude.
Balzac, Honoré de: Vater Goriot (diverse Ausgaben).
Brecht, Bertolt: Dreigroschenroman, in: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 13. Prosa 3, Ffm. 1967.
Dostojewski, F. M.: Die Erniedrigten und Beleidigten. Übersetzt von E. K. Rahsin, Ffm. und Hamburg 1971.
Jünger, Ernst: In Stahlgewittern, Stuttgart 2014.
Köppen, Edlef: Heeresbericht, Reinbek bei Hamburg 1979.
Kaiser, Arno: Fieber. Ein politischer Roman über Hoffnung, Widerstand und Verfolgung in der DDR im Zeitalter der Revolte 1968. Nach autobiografischen Motiven, Garbsen 2014.
Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues, Ffm., Berlin, Wien 1974.
Voltaire: Candide oder der Optimismus (diverse Ausgaben).

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